Alles im Fluss? Eine Reflektion
Friedrich Schillers Idee vom "Spiel" als Weg zur Freiheit *
Peter Guttenhöfer

Welt ohne Spielraum
Der moderne Mensch ist in eine Falle gelaufen: entweder Leben oder Reflexion. Aus diesem schwierigen Stoff ist zum Beispiel Franz Kafkas Roman "Der Prozess" gewoben, und er kann nicht anders enden als mit K.'s Tötung. Entweder du lebst, dann stürz dich hinein ins Leben! Oder du reflektierst dein Leben, und zwar total, dann kannst du nicht leben, denn die Reflexion verschlingt deine Lebensenergie ganz und .. gar! Und zu der in Richtung Falle hastenden Kafka'schen Maus sagt die Katze genüsslich am Ende: "Du musst nur die Laufrichtung ändern" und frisst sie. (Franz Kafka, Kleine Fabel)
Das Leben in einer modernen Stadt macht's möglich, dass dort ein Mensch in einer Wohnung sitzt, elektrisch beleuchtet, angeschlossen an hochkomplexe, für ihn fast undurchschaubare Versorgungs- und Kommunikationsnetze, und über die Freiheit grübelt oder gar darüber schreibt. Das gibt wirklich ein komisches Bild. Würde er sich durchdringen mit dem Bewusstsein seiner tausendfältigen Abhängigkeit und seiner fast vollständigen Unfähigkeit, an diesen Netzen zu weben oder zu flicken, würde er den Kopf auf die Tastatur fallen lassen, mit deren Hilfe er gerade seinen Aufsatz über die Freiheit verfassen wollte.
In unseren Schulen sind wir bestrebt, die jungen Menschen mit "Sozialkompetenz" und dem Bewusstsein ihrer individuellen Freiheit auszustatten, aber die Mittel, derer wir uns dazu bedienen, sind Indizien dafür, dass die Institute und ihre Lehrer selbst damit gar nicht ausgestattet sind, sondern nur höheren (?) Weisungen folgen. Auch das ist komisch und bringt die halbe Menschheit zur Verzweiflung.

So leben wir in Widersprüchen und groteskem Aberglauben an unsere Freiheit.

"Spiel" ist aus städtischem Leben fast ausgeschlossen. Spielerisches Laufen über eine Straße oder ein Ball in der Hand eines Kindes in der Stadt sind lebensgefährlich. Spielcasinos, Spielplätze und Spielhöllen werden eigens eingerichtet, um Leib und Seele einen kleinen relax zu verschaffen. Spielzeuge werden angeboten, die die Entfaltung der kindlichen Phantasie behindern.

Elektronische Spiele, die geeignet sind,. das Reiz~Reaktiorrs-Schema, wie es das Verhalten der Tiere bestimmt, in junge Menschen einzupflanzen, werden zu "Kultur-
gütern-' erklärt. Spiel nicht, sondern arbeite! ist auch heute - oder heute mehr denn je? - der Ruf an den in die Staats- und Wirtschaftsmaschine eingeklemmten Menschen.

Absurde Welt, aus der die Spielräume verschwinden!

Auch wahr ist allerdings, dass wir eigentlich erst im zwanzigsten Jahrhundert die tiefere Bedeutung des kindlichen Spiels erkannt haben. Aber wir haben es ab- gesondert, es ins Kinderzimmer verbannt, und dort häufen sich die Spielsachen. In der .Welt der Erwachsenen gibt es nichts zu spielen. Immer weniger Tätigkeiten oder Vorgänge in der Erwachsenenwelt zeigen sich der kindlichen Wahrnehmung so, dass sie im Spiel nachgeahmt werden könnten - damit verkümmert die Hauptwurzel für das kindliche Spiel! Es scheint so, als ob in der gegenwärtigen historischen Phase, in der das real


Die Ästhetischen Briefe
Es war Friedrich Schiller, der Dichter, durch den diese Wiedergeburt eingeleitet wurde. Er hat den Begriff "Spiel" gezeugt. Bei der Lektüre seiner "Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen" kann man Zeugung und Geburt beiwohnen. Das Bild des Menschen wird so entworfen, dass zwei Haupttriebe bezeichnet werden, die sein Tun im Wesentlichen bestimmen: der sinnliche oder Stofftrieb und der Formtrieb. "Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebs, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung, ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst." (Brief 15)

Demnach erscheint der Mensch als vollständig bestimmt durch die Wirkung dieser
* Abdruck mit freundlicher Genehmigung des DRP-Rosenkreuz Verlag, Birnbach aus: Die Verwandlung der Wirklichkeit, 2009, S. 117-128 ISBN 978-3-938540-20-6
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