Es erscheint entsprechend plausibel, dass wir in dem Material, das wir mit unseren Visionen einer besseren Zukunft aufladen, auch glauben, diese bessere Zukunft sehen zu können: In der bereits erwähnten Kristallkugel der Wahrsagerin.

Doch „wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
(F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 146)

Als im Jahr 1930 in Dresden der erste „Gläserne Mensch“ gebaut wurde, war er gedacht als anatomisches Studienobjekt. Heute ist der Begriff, weitgehend losgelöst von seinem Ursprung, zur Metapher der Überwachbarkeit des Menschen geworden. Denn wer immer vor einem großen Fenster steht und herausschaut, der kann auch von draußen wie in einem Aquarium angeschaut werden. Und in dem Maße, in dem wir uns eine mit Glasfaserkabeln vernetzte, transparente Welt erschaffen, wird auch die Gefahr größer, selbst transparent zu werden, und zu einer Information degradiert zu werden, die auf der anderen Seite des unsichtbaren Glases herausgelesen wird, die vielleicht bald in Datenkristallen abgespeichert wird, die sich derzeit in der Entwicklung befinden und die eine nahezu unbegrenzte Speicherdauer ermöglichen sollen. So ist zu befürchten, daß gläserne Kristalle nicht nur unsere Visionen und Utopien in sich aufnehmen, sondern irgendwann auch uns selbst: als Datenclone.

Dann könnte es uns ergehen wie einst dem Studenten Anselmus in der Novelle „Der Goldenen Topf“ von E.T.A. Hoffmann, dem gleich zu Beginn der Erzählung eine Hexe zuruft:

»Ja renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!«

Und der sich später eingeschlossen in einer Glasflasche auf dem Regal eines Magiers wieder findet:


»Aber meine besten, wertesten Herren!« sagte der Student Anselmus, »spüren Sie es denn nicht, daß Sie alle samt und sonders in gläsernen Flaschen sitzen und sich nicht regen und bewegen, viel weniger umherspazieren können?« – Da schlugen die Kreuzschüler und die Praktikanten eine helle Lache auf und schrieen: »Der Studiosus ist toll, er bildet sich ein, in einer gläsernen Flasche zu sitzen, und steht auf der Elbbrücke und sieht gerade hinein ins Wasser.«

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VGWort, Feb. 2016

Die 01. Ausstellung im Jahresprogramm SPEICHERN | AKKUMULIEREN des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2016
Dokumentation der Installation
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek 
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