Im gläsernen Archiv - Einführungsrede zur Ausstellung  "Jenny Schäfer: Wie aus weiter Ferne" von Dr. Thomas Piesbergen
Eine Ausstellung im EINSTELLUNGSRAUM e.V. zum Jahresthema "Speichern Akkumulieren."

In der englischsprachigen Schreibtheorie gibt es den Begriff des „clear pane of glass“-Stils. Er bezeichnet eine Art zu schreiben, in der der Autor für den Leser nicht spürbar wird, der Leser vielmehr das Gefühl haben soll, einen unverstellten und unmittelbaren Blick auf die geschilderten Ereignisse zu haben, als schaue er ihnen durch eine Glasscheibe zu, so klar, daß sie unsichtbar scheint, als wenn es keinen Autor gäbe, der seinen Blick lenkt.

Vor allem dieser Eigenschaft, nahezu unsichtbar zu sein, verdankt das Glas seine hervorra- gende Bedeutung als Werkstoff, der unsere vom Menschen geschaffene Umwelt schon lange und in zunehmendem Maß prägt. Und diese annähernde Unsichtbarkeit entfaltet ihre größte Wirkung und den größten Nutzen im Zusammenhang mit wahrzunehmender Information:

Gläserne Schaufenster sollen den unmittelbaren Blick auf die feilgebotenen Waren gewährleisten;  Windschutzscheiben sollen nicht nur vor Fahrtwind und Witterung schützen, sondern gleichzeitig  eine möglichst perfekte Wahrnehmung der Straßensituation ermöglichen; die virtuelle Wirklichkeit jenseits der Bildschirme soll uns erreichen, ohne daß wir der trennenden Schicht aus Glas oder aus analogen Materialien gewahr werden; und die Rahmen, mittels derer wir durch die Verzeichnisstrukturen unserer Computer dringen, nennen wir Fenster. Tatsächlich werden auch die Datenströme, die unsere Welt wie ein unsichtbares Spinnennetz einhüllen, als Lichtimpulse durch Kabel aus Glasfasern geleitet.

Die Brille wurde zunächst ausschließlich als Gerät zum Lesen entwickelt, das Glas hat in diesem Fall also nicht nur die Funktion, unsichtbar zu sein, sondern etwas Sichtbares noch sichtbarer zu machen. Linsen aus geschliffenem Glas ermöglichen uns weiterhin den Blick in die Regionen der Einzeller, genauso wie in den interstellaren Raum, und erschließen uns damit sonst unzugängliche Informationen, machen also etwas vorher Unsichtbares überhaupt erst sichtbar. Und der Blick in eine Kugel aus Kristallglas soll schließlich den Blick in Bereiche öffnen, die den Gesetzen der Vernunft zufolge für uns besser unzugänglich bleiben sollten.
Auf dem Feld der abbildenden Medien schließlich ermöglicht die gläserne Optik photogra- phische Aufnahmen, die in der Regel durch eine Oberflächenlosigkeit gekennzeichnet sind, und uns, wie der „clear pane of glass“-Stil, eine dokumentarische Authentizität und Unmittelbarkeit vorgaukeln.

In jedem der aufgezählten Fälle tritt das Glas als Durchgangsmedium vollständig zugunsten der durchgehenden Information zurück. Niemand, den man vor einem Schaufenster fragte, was er sähe, würde antworten: eine Glasscheibe von 1,80 x 3,50 m.

Erst an zweiter Stelle steht die Funktion des Glases selbst als Träger von Daten und als Gefäß für die Projektionen einer elysischen Gegenwelt, für die es durch seine Gestaltlosigkeit, seine Reinheit und die damit assoziierte Unschuld ebenfalls prädestiniert scheint.

Aber was ist nun dieses Glas, das einen unserer wichtigsten Verbündeten bei der Rezeption von Informationen aus der Umwelt darstellt, was ist dieses scheinbar so nichts sagende, informationslose, weil nahezu unsichtbare und an sich gestaltlose Material?

In der Physik gibt es das Prinzip des Erhalts von Information. Nichts geht jemals verloren. Selbst die Information, die in der Materie gespeichert ist, die von einem Schwarzen Loch verschlungen wird, bleibt durch die Quantenverschränkung erhalten.

Und genauso ist auch im Glas eine Vergangenheit gespeichert, die Geschichte seiner Transformationen, die meist schlicht und ergreifend übersehen wird.

Jenny Schäfer hat sich in ihren aktuellen Arbeiten dieses Themas angenommen. Sie untersucht die Vergangenheit des Glases, seine Herkunft, die Einwirkungen, die es erfährt, und die verschiedenen Aggregatzustände, die es durchläuft. Und obwohl uns das Glas eigentlich so vertraut erscheint, berühren uns die Fragmente aus der Vergangenheit des Glases doch auf eine seltsam befremdende Art, „wie aus weiter Ferne“, als betrachteten wir seinen Ursprung durch ein umgekehrtes Fernglas.

Die 01. Ausstellung im Jahresprogramm SPEICHERN | AKKUMULIEREN des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2016
Dokumentation der Installation
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek 
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