Die Archäologie des Exils - Eröffnungsrede zur Ausstellung „Lior Eshel: KENOPSIA“ von Dr. Thomas J. Piesbergen

Die Ausstellung "KENOPSIA" von Lior Eshel findet in der Galerie des EINSTELLUNGSRAUM e.V. im Rahmen des Jahresthemas (Keine)Wendemöglichkeit statt.
 
Die Gegenwart ist, wie viele Zeitalter vor ihr, gekennzeichnet durch das Phänomen der Migration. Menschen sind entweder durch global verursachte Krisen dazu gezwungen, ihre räumlichen und kulturellen Kontexte zu verlassen, oder es wird ihnen durch die voranschreitende Globalisierung ermöglicht, in anderen Ländern zu studieren und zu arbeiten. Das Leben im Exil ist durch diese gegebenen Umstände heute zu etwas Allge-genwärtigem und Alltäglichem geworden. Ein Blick in die Nachbarschaft des EINSTELLUNGSRAUM, in der sich Europa, der Nahe Osten, Afrika und Ostasien auf dich- testem Raum drängen, genügt, um sich diese Tatsache vor Augen zu führen.

Durch diese Migrationsbewegungen verschiebt sich der Schwerpunkt eines der großen Themen des 20. Jahrhunderts: Die Identität.
Den Auftakt zur Bearbeitung dieses Themenfeldes bildete Sigmund Freuds frühes Hauptwerk „Die Traumdeutung“, vordatiert auf das Jahr 1900, als wollte er damit ganz bewusst dem aufziehenden neuen Jahrhundert das gundlegende Motiv geben.
Vor allem in der Literatur kann man deutlich ablesen, wie sich die „Identität“ gegen die anderen zwei grundlegenden menschlichen Themen, „Liebe“ und „Tod“, in zunehmendem Maße durchsetzt, oft, bedingt durch die politischen Verwerfungen des 20. Jhds., in Form der daraus abgeleiteten Polarität von Individuum und Masse, und den damit in Zusammenhang stehenden Fragen nach Autonomie und Verantwortung.

Nun, im 21. Jhd. sehen wir, wie sich der Schwerpunkt von der individuellen Identität zu der Frage nach kultureller Identität verschiebt. Denn das Individuum definiert sich nicht nur über die Fragen nach dem Gewissen und der Verantwortlichkeit oder über die von der Gesellschaft gewährten Entfaltungsmöglichkeiten.
Es definiert sich auch über seinen kulturellen Kontext und die aus diesem Kontext erlernten Verhaltensmuster, für die man solange blind bleibt, solange man sich innerhalb ihrer Routinen bewegt und innerhalb ihres Rahmens wahrnimmt und agiert. Dieser Rahmen jedoch wird in Zeiten globaler Migration ständig transzendiert und transformiert und unsere Identität dadurch in Frage gestellt.
Doch ist das Set kultureller Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster tatsächlich gleichzu-setzen mit unserer Identität? Und kann die Summe dieser Muster zu etwas gebündelt werden, was man eine „nationale“ oder „kulturelle“ Identität nennen könnte?

Nach den Konzepten der Existentialphilosophie und der Handlungstheorie entsteht die Identität des Menschen erst durch seine Handlung. Identität wäre also nichts, das per se gegeben ist, wie z.B. das Betriebssystem eines Computers, das sich zwar mit stets neuen oder sich wandelnden Inhalten beschäftigt, aber selbst dennoch unwandelbar bleibt.
Der Handlungstheorie zufolge tritt die Identität erst in Erscheinung, wenn akut gehandelt wird und ist erst als Muster zu erkennen, wenn fortdauernd gehandelt wird und diese Handlung sich dabei durch einen spezifischen Handlungsstil auszeichnet. Der französische Ethnologe und Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnete das Fortdauernde der Handlung als „Durée“, und den Handlungsstil, aus dem die akute kulturelle Praxis emergent hervorgeht, als „Habitus“.

Kultur, und damit kulturelle Identität, ist also nichts klar Umrissenes, Messbares oder konkret Benennbares, sondern wird immer erst durch die akute Handlung erschaffen, existiert also nur auf der Ebene der Handlung.
Der indianische Schriftsteller und Aktivist Jack D. Forbes schrieb in seinem Buch Columbus und andere Kannibalen dem entsprechend: „Die Religion eines Mannes ist nicht das, was er glaubt, sondern das, was er tut.“

Was aber ist die Handlung nun selbst? Sie ist ein Interagieren des Individuums mit seiner Umwelt. Dabei nimmt das Individuum Reize aus der Umwelt auf, ordnet sie, weist ihnen Bedeutung zu, und leitet daraus Impulse ab, mit denen das Individuum nun seinerseits auf die Umwelt einwirkt. Beide Aspekte dieses Handelns, die Rezeption und die Aktion, weisen sowohl bewusste wie unbewusste Anteile auf.

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Vernissage
Die 5. Ausstellung zum Jahresprogramm (Keine) Wendemöglichkeit 2018 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

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