Ich komme jetzt zu diesem weißen Gebilde im oberen Ausstellungsraum: ein Gespenst oder eine Reuse. Ich beginne mit meiner ersten Assoziation, der von einem Totenhemd.
Mit einem Totenhemd bekleidet sind alle gleich, vor Gott und dem Tod. Es macht also keinen Sinn, sich im Cocktailkleid beerdigen zu lassen. Und um zu signalisieren, dass man das verstanden hat, trägt man ein Totenhemd. Dieser Brauch ist mittlerweile nicht mehr üblich, aber das ist mir jetzt egal.
Hier haben wir – im übrigen fünf – säuberlich aufgetrennte Herrenober-hemden, also keine Totenhemden, aber die Assoziation stellt sich ein. Alle Teile, Manschetten, Krägen, Rückenteile sind der Größe nach sortiert und zu einer Art Schlauch verklebt. Hier gerate ich wiederum in nautische Gefilde, denn man könnte diesen Schlauch hervorragend als Treibanker verwenden. Damit bremst man ein Schiff z. B. in hoher See. Auf die letzte Schifffahrt mit Charon übertragen könnte man damit also die Fahrt verlängern, ein letzter „Ride“ bevor man für immer parkt.
Sie sehen jetzt, es klappt mal wieder nicht 100%ig mit den Assoziationen, denn wer trägt schon fünf Oberhemden auf seiner letzten Fahrt. Man kann zwar auch ein einzelnes Hemd als Treibanker verwenden, aber was soll dann dieser Schlauch aus fünf Hemden.
Nun, man kann die Sache noch mal anders angehen und sagen, dass Reinhold Engberding hier einen Erinnerungs-Treibanker zu Ehren der Person zusammengebaut hat, der die Hemden zu Lebzeiten gehörten und von der er sie erbte. Denn anders als ein intaktes Hemd, welches man ererbt im Schank aufbewahrt (und was vermutlich nie getragen wird, weil es nicht die richtige Größe hat, oder völlig unmodern ist), ist dieses Schlauch-Gebilde in der Lage, einen Gedanken in Gang zu bringen, der die Erinnerung an eine verstorbene Person aufrufen kann und wie ein
Treibanker den raschen Strom der ständigen Alltagsgedanken bremsen kann, auf dass in der so erzeugten Ruhe Erinnerungen an die Oberfläche treiben mögen, o. ä., wobei die reusenartige Verjüngung der Form, zusätzlich zum Bremsvorgang auch das langsame Entgleiten und »Kleinerwerden« der präzisen Erinnerungsbilder bedeuten könnte.

Vielleicht gehört dieser Teil der Ausstellung doch mehr zum Jahresthema »Bremsen«. Dagegen spricht dann aber wiederum das nachtgespenstartige Glotzen aus den leeren Höhlen der Schulterpartien, welches uns seinem mit koboldhaftem Spuk (den Schimmelreiter etc. bitte auch nicht vergessen) zu den nicht minder koboldhaften Gedichten führt (deren genaue Lektüre ich ihnen anrate).
Man darf nicht vergessen, dass bei all diesen Sperenzchen ein Fernrohr gut zu gebrauchen wäre, sowohl um in die Zukunft zu sehen, als auch in die Vergangenheit; um das Winkeralphabet live zu beobachten, ist es schier unerlässlich.

Nora Sdun
Hamburg, November 2014




Pressetext 
Vernissage
Die 09. Ausstellung im Jahresprogramm Park&Ride des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
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