Themen und Darstellungen der Himmel- und Höllenfahrt in jeweils ansprechende Formen gebracht hat. Anscheinend hat diesbezüglich die kosmische Katastrophe zum Ende der Kreidezeit, die den biologischen Siegeszug der Säugetiere ermöglicht hat, gravierende Spuren in unserem Stammhirn hinterlassen, aufgrund derer wir einerseits aus dem Dunkel der Erdhöhlen das Licht herbeisehnen und uns zugleich auch die Option des unterirdischen Verstecks offen halten. Dabei wirkt es konstituierend, dass Licht gewohnheitsmäßig von oben empfangen wird, wodurch es selbstredend eine vertikale Wirkung ausübt.

III.    Abgrund und Aufstieg

1.    Architektur der typografische Elemente

Ein vertiefender Blick auf die projizierten Bilder von Rehlich zeigt eine durch die bisherigen Beschreibungen noch nicht erfasste Gegenstands- ebene. Gelegentlich tauchen besonders innerhalb der Linsenform scharf umrissene geometrische Formen auf. Geübten Betrachtern gelingt es, darin typografische Elemente zu erkennen, was Arbeiten der Künstlerin um 1990 bestätigen. Damals hat sie Worte wie „Oraculum“ (grch.: Sprechstätte), „Rede“ und „Roma“ sowie die Typografie eines Plakats zerlegt und neu zusammengesetzt.2   Da Buchstaben, besonders die lateinischen Majuskel als in Stein zu meißelnde Typografie verwendet worden sind, besteht hier eine Verbindungen zur Architektur, die mit der Entwicklung von Schrift- typen vervollkommnet worden ist und mit der statischen Konstruktion - Schrift wird als auf einer Linie stehend vorgestellt - verschwistert ist. Die Architekturhaftigkeit der Buchstaben wird in den Hochformaten durch die Kuppelform der blauen Farbverläufe, die hier nicht immer die ganze Papierfläche bedecken, noch hervorgehoben. Da verwundert es nicht, dass sich gelegentlich ein Grundriss zwischen den typographischen Fragmenten findet. Die Beziehung zwischen diesen statischen Versatzstücken und der Malerei ist somit systematisch und verbindet zugleich Blätter einer frühe- ren Werkphase mit neuen malerischen Ansätzen. Diese treten durch groß- zügige Farbverläufe hervor, die sich bei aller Spontaneität auf das Papierformat beziehen und die zentrale Linsenform bogenförmig umspielen. Die durch den von Blatt zu Blatt eingeschlagenen Rhythmus entstehenden Varianten bilden weiterhin die Voraussetzung für die filmartige Abfolge, die durch das Programm der Projektionen in Szene gesetzt wird
2.    Lichtmetaphorik des Aufsteigens
Schließlich ist noch zu beachten, wie die geometrische Strenge der Schrift durch die Malerei gebrochen wird. Hier ist neben der Wirkung der Farbe auch ihr malerisch dynamischer Strich auf den Blätter von großer Bedeutung. Er wird, wie gesagt, schon durch die Projektion in ein kinematografisches Spannungsfeld gestellt, das zwischen der Materialität von Farbe und ihrer immateriellen Wirkung auf den Gesichtssinn wirkt. In der Auflösung der Pigmente durch Projektion findet der durch Malerei gesuchte Bezug zur kosmischen Dimension eine zeitgemäße Variante.
Um diesen Zusammenhang zu vertiefen,  möchte ich die Komposition der Farben und die Auffassung der Bildthemen heranziehen, die M.G.Grünewald auf den Tafeln des Isenheimer Altars verwirklicht hat. Sein Werk ist wegen der Vermittlung von Abgründen in die Tiefe der himmlischen Sphären berühmt, wobei er lasierende Tempera, sowie Farb- und Hell- Dunkelkontraste einsetzte, um eine auf einem Tafelbild bis dahin nicht gekannte Leuchtkraft zu erzielen, die die Vorstellung einer Auferstehung evozieren könnte.

Nicht zufällig finden sich die von Rehlich verwendeten Farben in dem auratischen Kreis der Gloriole wieder, mit dem Grünewald die Christusgestalt leuchten lässt und zugleich in der Schwebe hält. Der leicht aufwärts gerichtete Blick des Betrachters wird durch die Farbe und die Suggestion des Aufsteigens des Auferstandenen in einen nachtblauen Himmel in die Vertikale gelenkt. Die Farbigkeit ist dabei selbst kosmischen Erscheinungen wie einem Regenbogen oder einem Halo-Lichteffekt abgeschaut, der sich bei bestimmten Dunst- schichten kreisförmig um die Sonne bildet.3 Bei Rehlich ist die leuchtende Fläche nicht rund, sondern sie wird aus zwei ineinander geschobenen Halbkreisen bestehend, abgeflacht wiedergegeben, wodurch sie der mittelalterlichen Mandorla näher kommt. Allerdings ist diese Form bei Rehlich horizontal ausgerichtet, was die gewöhnliche Ausrichtung des menschlichen Blicks stärker betont. Erst die durch Projektion verstärkte Farb- und Lichtmetaphorik suggerieren eine Immaterialisierung, wobei die filmische Überblendtechnik eine Kippung der Aufmerksamkeitsachse in die Vertikale auslöst. Der Zug in die Vertikale wird durch die literarische Ebene, die durch den Ausstellungstitel BOLIDE(N) und durch die im Bild vorhandenen typographischen Splitter vorhanden sind, unterstrichen. Bezeichnen die Farbfolgen in Verbindung mit der  'Auferstehung Christi' den Triumph über Schmerz und Elend, so verbinden sich bei Rehlich die Themen 'Abgrund und Aufstieg' auf einer technischen und farbmetaphorischen Ebene zu einer abstrakten Idee des Aufsteigens zur Überwindung der Schwerkraft, die den auf den Horizont gerichteten menschlichen Blick auf die Quellen der optischen Wahrnehmung, also zum Licht nach oben lenkt.
2 Iris Pompesius hat sich mit dieser Herangehensweise auseinandergesetzt, mit der "sprachliche Zeichen aus dem Zusammenhang eines Diskurses ... in den bildkünstlerischen Kontext (verpflanzt) werden."  Schrift-Bote zwischen Bild und Sprache, in: Sabine Müller-Rehlich, Kunstverein Celle 1991, S. 12-17, S. 16. 3 Grünewald setzt hier auf die Kreisform, die möglicherweise aus der Naturbeobachtung abgeleitet ist, und ersetzt damit die frühere aus zwei ineinander geschobenen Halbkreisen bestehende Form der Mandorla, mittels der Christus als Erscheinung dargestellt wurde. Der Meister hat die Wirkung des bei Tage zu beobachtenden Halo-Licheffekts dramatisiert, indem er ihn in einen schwarz-blauen Nachhimmel pflanzte.
back
Vernissage                                                                                    home
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg