Über die Horizontale hinauf
Johannes Lothar Schröder über BOLIDE(N)
von Sabine Rehlich

I.    Kosmische Zusammenhänge

1.    Farbiges Licht

Besucher suchten den Eingang in den vollständig verdunkelten Innenraum und waren ob der mit einem Lattenraster gehaltenen Verdunkelung des EINSTELLUNGSRAUM irritiert. Im Inneren zauberten zwei Beamer eine Atmosphäre mit unmerklich wechselnden Farben. Komplementärkontraste bestimmten die Projektionen mit zumeist hellen, gelben und roten, linsen- oder torpedoförmigen Zentren, eingeschlossen von opak deckenden Farb- feldern aus dem blauen Spektrum. Zufallsgeneratoren überblendeten mehr als einhundert Einzelbilder. Waren die Querformate auf der Längswand überwiegend in der Bildmitte zentriert, so betonen die hochformatigen Projektionen auf der Stirnwand die Vertikale.


2.    Boliden

Der Titel der Ausstellung BOLIDE(N) bezieht sich auf besonders große mit einem Feuerschweif oder als leuchtende Kugel in die Erdatmosphäre eintretende Meteore. Erreichen Boliden die Erdoberfläche und ist ihre durch Verglühen abnehmende Masse noch groß genug, verwandelt ihre gewaltige kinetische Energie Materie in Wärmeenergie und Licht. Weil diese Explo- sionen gewaltigen Druck entfaltet, wird Materie in die Erdatmosphäre und das erdnahe Weltall geschleudert, was im ungünstigsten Fall eine kosmi- sche Katastrophe auslöst, welche die meisten Lebensformen auf der Erde regional und seltener auch global auslöscht.

Die Bezeichnung Bolide wird darüber hinaus auch für Rennwagen verwendet, die mit einem Schweif aus Abgasen, Staub oder - bei nasser Fahrbahn - Gischt ihre Bahnen ziehen, wenn

sie nicht von einem Raketenmotor angetrieben werden oder Flammen aus den Auspuffrohren schlagen. Sie verkörpern den Wunschtraum des Menschen, in kosmische Dimensio-
nen vorzustoßen und es den Göttern gleichzutun, die in der Vorzeit und Antike auf Fahrzeugen die Wandelsterne am Himmel verkörperten. Immer wieder versuchten Menschen mit den ihnen jeweils verfügbaren techni- schen Mitteln aber auch durch Imagination es ihnen gleich zu tun. Mit dem Niedergang des Götterglaubens kamen sachlichere Vorbilder in Frage, weshalb sich die Liebhaber von Autorennen an den versprengten kosmi- schen Fragmenten orientierten, die auf ihren irregulären Bahnen die Erde streifen und gelegentlich treffen. Meteore und Boliden stellen somit eine konkrete Verbindung zwischen dem kosmischen und irdischen Ge- schehen dar.

Trotz der sporadischen Anschauung von Sternschnuppen, die nur winzige Partikel sind, die mit Geschwindigkeiten von 30.000 m/sec. oder schneller in die Erdatmosphäre eintauchen und aufleuchten, haben wir keine wirkliche Vorstellung von der ungeheuren Wucht der damit verbundenen kine- tischen Energie sowie von der Masse, die die Erde pro Jahr um 50.000 t schwerer werden lässt. Selbst die Ausmaße einer irdischen Deformation, die am 11. März 2011 den Tsunami vor der japanischen Ostküste auslös- te, entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Bestenfalls können wir Teile der Zerstörung, die mit der Verschiebung des Archipels um 250 cm von der Asiatischen Kontinentalmasse einhergegangen sind, zur Kenntnis nehmen, doch steht zu bezweifeln, dass wir in der Lage sind, die volle Zerstörungs- wirkung des Geschehen auch nur annähernd zu erfassen, welche die Lebensgrundlagen 100.000-er Menschen zerstört hat. Allein über 20.000 Tote kann niemand betrauern. Die Ereignisse übersteigen unsere moralischen Kompetenzen, weshalb sich die Nachrichten auch den „kon- kreten“ Vorgängen im Atomkraftwerk zugewandt haben, wo bildhafte Aktionen für Nachrichten produziert werden und man darauf hofft, durch menschliches Einwirken noch Schlimmeres verhindern zu können.

Was uns Menschen fehlt, ist die Fähigkeit, kosmische Dimensionen zu vergegenwärtigen, die unser Wahrnehmungsvermögen um das Vieltausendfache übersteigen. Jede konkrete Begegnung mit diesen Phänomenen verursacht schon wegen unserer sinnlichen, intellektuellen und morali
schen Beschränktheit Folgen, die wir Katastrophen (Umkehr/Wendung) nennen, weil bisherige Ansichten und Übereinkünfte über den Haufen geworfen werden.
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