gen, sich aber zunehmend von willkürlichen Darstellungsabsichten befreite. Durch die Suspension des Gestaltungswillens blieb zwar die Linienführung des Piktogramms im Ansatz stabil, doch führte die Variation des Piktogramms zu einer neuen Bildfindung, welche in diesem Fall eine Figur hervorbrachte, in der die Künstlerin ihre Darstellung des Zachäus ent- zifferte. Diese ist mit bestehenden ikonografischen Vorgaben nur locker verbunden. Eine Darstellung im Perikopenbuch Kaiser Heinrichs II. für den Bamberger Dom aus dem 11. Jahrhundert zeigt Zachäus in einem stilisier- ten Baum, während Jesus mit den Jüngern sich ihm von unten nähern. Bemerkenswert ist, dass der Buchmaler die Sehachse ähnlich wie Sticker auf die Ebene des zwischen den Zweigen hockenden Zachäus gelegt hat.3

Neugier und Scham - Eine neue Interpretation des Zachäus

Wenn jemand auf einen Baum klettert, sucht er nach Übersicht, wenn- gleich ein belaubter Baum dabei nicht unbedingt die erste Wahl ist. Besser geeignet wäre ein Balkon, ein Dachstuhl oder ein Leiter. Weil Zachäus aber den Baum wählte, spielt der Aspekt des Versteckens mit hinein. Da hier Verstecken und Übersicht gepaart sind, nimmt Sticker an, dass des Zachäus' Aufenthalt auf dem Baum auch etwas mit Scham zu tun haben könnte, und beruft sich dabei auf die Genesis. Darin wird aus dem Paradies berichtet, dass Adam und Eva auf einen Baum gestiegen sind, nachdem sie von der „verbotenen Frucht“ gekostet hatten. Voll der Erkenntnis und sich zugleich ihrer Blöße bewusst werdend, suchten sie sich den Blicken ihres Schöpfers zu entziehen. 

Der Zusammenhang, den diese Koinzidenz berührt, ist so merkwürdig wie bedeutungsvoll, denn im Klartext gesprochen heißt es, dass neben der Erkenntnis auch die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen, die sich doch erst jenseits der Paradiesmauern entfalten konnten, ein Grund zur Scham sind. Stickers Exegese führt dazu, die erste Scham als Akt der Autonomie anzusehen. Sie benennt die erste kreative Handlung/Haltung als 'Fertigung eines Selbstschutzes'. Sie sagt: „Voll der Erkenntnis und sich zugleich ihrer Blöße bewusst werdend, suchen sie sich den Blicken ihres Schöpfers zu entziehen.“
Wenn Künstler ihre Werke lieber verborgen halten, als sie zu zeigen4, hat das also nicht notwendig mit mangelnder Gelegenheit zu tun, sondern auch mit der Nichterfüllung von Normen und Erwartungen durch ein unkonventionelles Kunstwerk. Auch ist es möglich, dass es nicht nur Konventionen überschreitet, sondern auch seine Schöp- fer oder Schöpferin bloßstellen kann. Es ist also nicht das Publikum allein, das ein Werk hässlich oder unschicklich empfinden kann. Wenn ein Bild als schlecht oder misslungen gilt, hat das mannigfaltige Gründe, die von verschiedenen Seiten vorgetragen werden können. Paradoxerweise führt es unter Umständen sogar zu Schwierigkeiten, wenn ein Werk gut gelingt und als zu perfekt eingestuft wird. Asiatische Künstler, so hört man, sollen bis- weilen eine Macke an ihren gelungensten Stücken anbringen, um die Götter nicht herauszufordern5.

Das Verstecken bildet eine Besonderheit in doppelter Hinsicht; denn Stickers Zachäus entzieht sich nicht nur im Blätterwerk des Baumes den Blicken; auch seine Abbildlichkeit in der kollagierten Stofflichkeit entzieht sich den Betrachtern und gibt ihnen auf, seine Gestalt aus der Abstraktion herauszulesen. Wir haben es hier ja mit einem Bild zu tun, das nicht nur ikonographisch eigene Wege einschlägt, sondern als gestisch abstrakte Bildfindung von der Tuschespur auf einem Blatt in ein installatives Objekt übertragen wurde.

Die Umsetzung des aus der Tuschezeichnung herausgelesenen Bildes des Zachäus führte schließlich zum Entwurf für die 2003 realisierte Installation im ehemaligen Frauenbetsaal der Strafvollzugsanstalt von 1885 in Neu- münster. Hier stellt die Applikation aus Doupionseiden den Zachäus nach unten blickend auf einem Baum hockend dar. Das installative Objekt ähnelt der hier ausgestellten Variante, doch weist diese verglichen mit dem Auftragswerk eine grundsätzliche Veränderung auf. Das Objekt im EIN- STELLUNGSRAUM ist auf transparenter Folie appliziert und gibt den Blick auf die dahinter liegende Wand frei, gegen die das tragende Gestell lehnt. Die Position des Zachäus wirkt dadurch labiler und ungeschützter. Das wird noch gesteigert, weil die gegabelte Form der in der Neumünsterschen Fassung auf ihn weisenden Hand zu Boden gerutscht ist und der  dazugehörige Arm, der sich von unten um den Baum windet, die Gestalt einer Schlange angenommen hat. Auf diese Weise wird der göttliche Fingerzeig gemäß des Lukas-
http://www.bildindex.de/obj00012522.html#|home
4 So lehnte in Picassos Atelier im Bateau-Lavoir etwa sein später berühmt gewordenes Gemälde „Demoiselles d'Avignon“ 13 Jahre lang an der Studiowand bis es 1920 erworben und erstmals 1925 in „La Révolution Surréaliste“ reproduziert wurde. Jeanine Warnod: Bateau-Lavoir, Paris 1975, dt. Bateau-Lavoir. Wiege des Kubismus, Genf 1976,
S. 88.
Auch die Höhlenmalereien lagen fast immer im Dunklen wie viele heilige Bildnisse auf allen Kontinenten in
unbeleuchteten Sakralbauten. Grelle Beleuchtung ist eineErscheinung der Neuzeit.
5 Von Nam Jun Paik ist überliefert, er hätte gesagt: „Wenn zu perfekt, Gott böse!“

Die 08. Ausstellung im Jahresprojekt  Autos fahren keine Treppen  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg 
back
next