Bilder aus der Zwischenwelt zutage fördern
Johannes Lothar Schröder



In der Ausstellung ausloten von Edith Sticker lassen sich drei Gruppen von Arbeiten unterscheiden.

1.    Im kleinen Ausstellungsraum unten ist eine Installation aus 6 Leitern, 6 Glühbirnen und Kabeln aufgebaut. Die Einladungskarte zeigt ein Detail dieser Installation, wie sie 2010 auch im Hühnerhaus Volksdorf zu sehen war1
2.    Im oberen Ausstellungsraum hängen mehrere kleinformatige Tafelbilder und fünf Tuschmalereien. Die Leinwände stammen aus einer Serie, die Sticker im Frühjahr 2011 gemalt hat.
3.    An der Wand lehnt ein Objekt, das aus einem Gestell besteht, über dem auf Folie applizierter Seidenstoff drapiert ist. Seine Position entspricht der einer Leiter und wirft die Frage des Auf- bzw. Absteigens auf. Durch den Titel „ZACHÄUS, Lukas 19“ ist zu erfahren, dass es sich um eine Episode im Neuen Testament handelt, in der der Zöllner Zachäus beim Einzug Jesu in Jericho auf einen Baum stieg, weil er kleinwüchsig war. Er verharrt nicht in der ihm von der Gesellschaft zugedachten Rolle als „Kleiner“, er resigniert nicht, sondern kommt aus der Horizontalen und geht in die Vertikale, wodurch er die Ebenen verschiebt.
I. Eine gestische Bildfindung
Die Bilder sind so gehängt, dass Besucher der Ausstellung an den kleinformatigen Ölbilder vorbei zu dem Objekt hingeleitet werden, das auf den ersten Blick gar nichts mit Malerei zu tun hat; denn es ist aus Seidenstoffen und Klarsichtfolie wie ein Kleidungsstück über einem Gestell drapiert. Während man es betrachtet, kehrt man den Tuschemalereien den Rücken zu. Als Vorstufe der textilen Arbeit beinhalten sie allerdings den Schlüssel zur darin enthaltenen Bildfindung.
Betrachtet man die Formen, so lässt sich im oberen Drittel der Blätter ein unterschiedlich klar erkennbarer hockender Körper ausmachen. Auf einem Blatt verbindet ein Tuschestreifen die Figur mit dem unteren Bildrand. Diese Vertikale wird am Objekt durch eine senkrecht gestreifte Stoffbahn als stilisierter Baum wiedergegeben, die nach oben auf Wachstum gerichtet und zugleich nach unten auf seine Befestigung am Boden orientiert ist. In der Realität findet der Baum dort seine Verankerung mit Wasser- und Nahrungsreservoir, während hier das lange Stoffende sich doppelt wellend locker auf den Boden fällt. Seine Bewegung übernimmt ein den Falten entspringender dunkelblauer Stoffstreifen, der sich in Form einer Schlange empor windet. Sticker lässt sie überraschend aus dem Alten Testament im Bild auftauchen, um zu signalisieren, dass der Aufenthalt des Zachäus im irdischen Paradies beendet ist, denn die Begegnung mit Jesus, wird ihm ja das als Zöllner teils unberechtigt angeeignete Vermögen kostet, das er seinen Klienten zurückzuerstatten verspricht. Sticker liest die Schöpfungsgeschichte religionsgeschichtlich vor dem Hintergrund der „Bedeutung der Nacktheit für das Menschenbild von Genesis 2 und 3‘. Darin werden dem Mythos entsprechend „Die Folgen der Übertretung/Die Wirkung der verbotenen Frucht“2 beschrieben, nachdem „der Mensch und seine Frau“ der Verlockung der Schlange gefolgt waren.
Mit ihrer Antwort auf die Frage, wie die neutestamentliche Geschichte des Zachäus zu interpretieren sei, schlug die Künstlerin weder einen ikonographischen noch einen philologischen Weg der Bildfindung ein, sondern ihre Wahl fiel auf die Ergebnisse einer Übung in japanischer Tuschemalerei. Im Rahmen eines Workshops bekam die Künstlerin die Aufgabe, das chinesische Piktogramm für Nebel mit einem großen Tuschpinsel wie- derzugeben. Die vor mehr als einem Jahrzehnt entstandenen Resultate sind auf 4 nebeneinander hängenden hochformatigen Blättern zu sehen. Die Sequenz beginnt mit der zunächst mustergültigen Wiedergabe eines Schriftzeichens, wobei zu beobachten ist, wie sich der Malakt im Verlauf der Übung den Erfordernissen der Konvention entzog, so dass die den Tuschpinsel führende Hand schließlich eigenen Impulsen folgte, in deren Bewegungen zwar noch Rhythmus und Duktus der Aufgabe nachschwangen, sich aber zunehmend von willkürlichen Darstellungsabsichten befreite. Durch die Suspension des Gestaltungswillens blieb zwar die Linienführung des Piktogramms im Ansatz stabil, doch führte die Variation des Piktogramms zu einer neuen Bildfindung, welche in diesem Fall eine Figur hervorbrachte, in der die Künstlerin ihre Darstellung des Zachäus entzifferte.
1 Undine Eberlein, Zeit und Dauer, in: hühnerhaus volksdorf. kunst, Hamburg 2011, S. 22-25 Das Hühnerhaus steht im Garten der Künstlerin in Hamburg Volksdorf, wo es 1939 zusammen mit dem Wohnhaus errichtet wurde. Seit 2009 stellt es Edith Sticker als Ausstellungsort zur Verfügung.
2 'Da wurden ihnen die Augen ihrer Zweiheit /ihrer beiden Augen geöffnet und sie erkannten/wußten, dass sie nackt (waren). Da banden sie sich Laub eines Feigenbaumes und machten sich Gürtel/Schurze. Als sie die Stimme/den Klang JHWS Elohims hörten, wie er einherging im Garten in der Abendkühle/zum Wehen des Tages, da versteckten sich der Mensch und seine Frau vor (dem Angesicht) JHWS Elohims inmitten der Bäume/des Gehölzes des Gartens.'
Friedhelm Hartenstein, Arbeitsübersetzung der Vorlesung zu Genesis 2 und 3, Sommersemester 2007 Universität Hamburg

Die 08. Ausstellung im Jahresprojekt  Autos fahren keine Treppen  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg 
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