Anna Bochkova wuchs in einer russischen Pendlerstadt auf, in der alle Straßen nach Kosmonauten, Sternen oder astronomischen Schlagworten benannt waren. Alles zeugte von dem materialistischen und utopistischen Geist des Sowjet-Kommunismus, der aus dem gleichen zeitgeschichtlichen Milieu hervorgegangen ist, wie die kosmistische Philosophie, der auch Fjodorov zuzuordnen ist. Von dieser Umgebung, die als bewusster Ausdruck der Staatsideologie geschaffen worden war, wurde Anna Bochkova nicht nur zwangsläufig geprägt, gleichzeitig entwickelte sie in diesem anthropogenen Environment eine Sensibilität für die Mechanismen, mit denen der Raum auf den Einzelnen identitätsstiftend zurückwirkt.

Nach dem „Habitual Choice Model“ des Architekturtheoretiker Amos Rapoport bestimmt die natürliche Umwelt nicht vollständig das Verhalten des Menschen, sondern bietet lediglich die Rahmenbedingungen für eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen. Die Gestalt menschlicher Siedlungen, angefangen bei der Auswahl der topographischen und klimatischen Bedingungen bis hin zu der Gestaltung des privaten Wohnbereichs, ist abhängig von dem kulturell bedingten Wahl- oder Entscheidungsverhalten, wobei die Auswahlkriterien aus habituellen „sets of choices“ bestehen, die sich durch das alltägliche Handeln realisieren.
Obwohl das Auswahlverhalten sich nur vor dem Hintergrund der natürlichen Gegebenheiten abspielen kann, ist es dennoch von der habituellen Form kognitiver Kategorien und Wertesystemen bestimmt, die eine kulturelle Gemeinschaft charakterisieren, in diesem Fall die Kategorien und Werte der kommunistischen Utopie.

Die Entscheidung „hier“ und nicht „da“ zu sein, ist essentiell für das kulturelle und soziale Selbstverständnis. Die Architektur wird dabei als ein habituelles Gedächtnis interpretiert. Nachdem ihr Gestalt gegeben worden ist, „erinnert“ sie als neue, anthropogene Umwelt ihre Bewohner an Verhaltens-konventionen, genauso wie ihre Struktur wiederum veränderten Bedingungen angepasst wird. Aufgrund dieser Eigenschaften ist die Architektur das Paradebeispiel einer „strukturierenden Struktur“. Und in dem sie ihren Bewohnern das Gefühl für den eigenen Raum und den Raum des anderen vermittelt, vermittelt sie ihnen, so Pierre Bourdieu, den kultur- und schichtspezifischen Habitus, in dessen Rahmen sich schließlich die subjektive Identität entwickelt.
 Der schweizerische Architekturtheoretiker Sigfried Giedion wiederum benannte sein Hauptwerk nach dem für ihn markantesten Aspekt der Architektur, nämlich nach ihrer überzeitlichen Qualität, in der sich ihr kommunikativer Inhalt, ihre Struktur vermittelt: „Die ewige Gegenwart“.
Fügt man diesen Denkansatz mit der Idee einer Struktur zusammen, die einerseits aus einem „set of choices“ hervorgegangen ist, die andererseits ein spontanes und subjektives Handeln innerhalb eines tradierten „set of choices“ ermöglicht, können wir in dem Bild der Architektur, ganz im Sinne Fjodorovs, eine außerordentlich treffende Metapher für die menschliche Identität als unsterbliches Kunstwerk erkennen.

Es ist diese Metapher, die sich Anna Bochkova in ihrer Arbeit erschlossen hat. Sie orientiert sich dabei nicht an faktischer Architektur innerhalb derer sie in entscheidenden Phasen ihrer Selbstwerdung gelebt hat, vielmehr sind es mögliche Architekturen, die aus ihrem subjektiven „set of choices“ hervorgegangen sind und den Denk- und Empfindungsraum für potenzielle Handlungen und Denkakte stellen.

Bei diesen Erkundungen der auf den Raum bezogenen Identität entstehen, vor dem Hintergrund Anna Bochkovas eigener Biographie, zwangsläufig immer wieder Formen, die an die Verheißungen der großen materialistischen Utopien gemahnen, doch ist deren Makellosigkeit verschiedentlich gebrochen, mal durch eine stark und unregelmäßig strukturierte Oberfläche, mal durch amorphe Raumlinien aus Draht und Gips, die nur noch als empfundener Raum oder eine Empfindung im Raum gelesen werden können, und damit aus der Sphäre realer Körperlichkeit übertreten in einen seelischen Raum.

Immer aber ist die architektonische Struktur maßgeblich präsent als Ewig-Gegenwärtiges, aus dem erinnertes oder erahntes Erleben sich hervorbringen kann, indem es mit der Architektur als strukturierendem Element in Wechselwirkung tritt. Es sind Bausteine der Identitäten, die wir in einer stetig sich neu erfindenden Gegenwart konstituieren, und diese Bausteine treten in dem Werkkomplex der vorliegenden Ausstellung, ganz im Sinne Fjodorovs, zu einem kosmistischen Museum der eigenen, auf Unsterblichkeit hoffenden Identität zusammen.

© Thomas Piesbergen / VG Wort, Februar 2021
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