Waren ehemals die Ursachen für all diese menschlichen Katastrophen noch annähernd offenkundig z.B. als reine machtpolitische Interessen zu erkennen, und ihre Verursacher zu benennen, wie z.B. bei den zahlreichen Erbfolgekriegen seit dem Mittelalter, akkumulieren sich gegenwärtig bereits die simpelsten alltäglichen, individuellen Handlungen, eingebracht als Bewegungen in ein globalisiertes ökonomisches System, zu weitreichenden Effekten und können zu Flucht-, Vertreibungs- und Kriegsursachen werden.

Allein durch den so harmlos erscheinenden Kauf einer Flasche Maggi macht man sich in letzter Instanz mitschuldig an einer der größten sich anbahnenden Katastrophen in Westafrika, wo Nestlé mit staatlichen Subventionen im großen Stil Wasserquellen aufkauft, um sie als Mineralwasser abzufüllen, das für die Einheimischen unerschwinglich ist, während im Umland das Vieh verdurstet, das Getreide verdorrt und die Menschen verhungern.
Denn selbst wenn auf der einen Seite nur eine individuelle Begehrlichkeit besteht, wird sie, kollektiv gebündelt und ausgenutzt von systemischen Opportunisten mit dem Vorsatz persönlicher Bereicherung, zu einer massiven Nachfrage, hinter der schließlich soviel Kapitalkraft und materielles Interesse steht, daß sie an anderer Stelle problemlos, ob mit verdeckter oder offener Gewalt, alle autoritativen oder allokativen Ressourcen unter Kontrolle bringen kann. Und schließlich koppelt sich diese so entstandene Bewegung von den ursprünglich auslösenden Bedürfnissen ab und dient nur noch dem Selbstzweck der Kapitalvermehrung.

Wasser wird nicht mehr gepumpt und abgefüllt, um Vieh zu tränken, Äcker zu bewässern und den Durst zu löschen; Häuser werden nicht mehr gebaut, um Menschen zu behausen; Nahrungsmittel werden nicht produziert, um zu ernähren - alles geschieht nur noch, um das dahinterstehende Kapital zu vermehren und materielle Interessen zu befriedigen. „ Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind.“


Und während so auf der einen Seite wie von einem Gravitationsfeld immer mehr geronnene Energie in Form materieller Güter angehäuft wird, die dem postindustriellen Menschen der oberen gesellschaftlichen Schichten schließlich wie ein Mühlstein um den Hals hängen, wirken auf andere Regionen des Räderwerks so massive Kräfte, daß durch Überlastung und die enstandene Fliehkraft individuelles Leben auseinander gerissen und in ein immaterielles Niemandsland katapultiert wird, in dem sich die menschliche Identität nur mehr von Erinnerungen ernährt, die durch die Traumata der Flucht zusehends verschüttet und ersetzt werden.
In der Ausstellung FliehKraft von Elke Mark sind wir vom Niederschlag dieser Imma- terialität  und Fragmentierung umgeben.
Im Zentrum ihres Werkkomplexes stehen die Fluchterfahrungen von Barbara Waetzmann nach dem zweiten Weltkrieg und die von Anwar Alwahran, dem erst vor kurzem die Flucht aus Syrien gelang.

Als Barbara Waetzmann mit ihrer Familie floh, war eines der wenigen Dinge, die sie mitnahm, ein Buch mit Balladen, das in verschiedener Form in der Ausstellung auftaucht.
Es gibt kaum etwas, das einerseits so immateriell, andererseits aber so unzerstörbar und verlässlich ist, wie ein Gedicht, dessen Wortklang, Versmaß und Bilderfülle immer wieder aufgesucht werden kann und Halt gibt, als verläßliche Zuflucht in einer Welt, die auseinander bricht.

Ebenfalls von großer Bedeutung für die Verarbeitung der Fluchterfahrung und das Bemühen, die eigenen Identität vor weiterer Verletzung zu schützen, war ein Adventskalender, den Barbara Waetzmann gemeinsam mit ihrer Schwester gestaltet hat. Ihre Eltern sollten jeden Tag eine Zeichnung aufdecken, auf der eine markante Situation des vorangegangenen Jahres festgehalten war. Interessant dabei ist, daß es sich nicht nur um Szenen aus der Zeit vor der Flucht gehandelt hat, sondern auch um die Wiedergabe von Ereignissen auf der Flucht und aus der Zeit unmittelbar danach.
Hier lehren uns die Resilienz und die Intuition des Kindes, daß die Identität des Menschen sich nicht nur auf die Zeit vor dem Trauma berufen kann, sondern auch die Flucht selbst Teil der Identität werden muß, um ein vollständiges Ganzes zu bilden.

Mit dieser Installation korrespondieren auch die Zeichnungen Anwar Alwahrans, der die Erinnerung an verschiedene Stationen seiner Flucht festgehalten hat, um sie begreifbar und mitteilbar zu machen - einerseits sehen wir darin Momentaufnahmen eines im reißenden Strom der Veränderung befindlichen Zwischenzustands, andererseits sind es bereits Bausteine einer zukünftigen Identität, die sich formieren und festigen wird.

Was vor allem berührt und Hoffnung gibt, ist der Umstand, daß es zwei Menschen gelungen ist, sich nicht von der gewaltigen, auf sie einwirkenden Fliehkraft zerstören zu lassen, sondern sich einen Teil davon gestalterisch anzueignen und die Intensität der Fliehkraft zu nutzen, um den Individuen, die fern der Zentren der Zerstörung in Regionen materieller Akkumulation leben, Kunde davon zu bringen, welche tatsächlichen Ereignisse und Lebensschicksale mit ihrem lokalen Handeln in Verbindung stehen, ihnen die Ereignisse vor Augen halten, für die sie schließlich mit jedem alltäglichen Tun mitverantwortlich sind.

Denn setzt man selbst Kräfte in Gang, die eine solch hohe Fliehkraft erzeugen, daß die von ihr auseinander geschleuderten Lebensfragmente uns erreichen, ist es unbedingt notwendig, daß es Stimmen gibt, die uns diese verlorenen Trümmer von Leben in einer bedeutsamen und uns verständlichen Form ordnen und uns damit begreifbar machen, was in der Welt, die wir miteinander teilen, tatsächlich vor sich geht.


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, November 2017

Die 9. Ausstellung zum Jahresprogramm DREHMOMENT, 2017 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

Präsentation
Vernissage mit Performances
back
home
Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek