Begehrlichkeit und Gewalt im Räderwerk der Welt - Eröffnungsrede zu "Elke Mark: FliehKraft" von Dr.Thomas Piesbergen
Im Zentrum der aktuellen Ausstellung „FliehKraft“ von Elke Mark zum Jahresthema DREHMOMENT des EINSTELLUNGSRAUM steht ein inhaltlich stark aufgeladenes Thema: Flucht und ihre Auswirkung auf die individuelle Identität.

Teil der als performatives Ganzes konzipierten Ausstellung sind die lebendigen Stimmen dreier Zeugen sowie das unmittelbare Gespräch von Agierenden und Besuchern.
Als Kunstvermittler habe ich mich deshalb in Übereinkunft mit Elke Mark dazu entschieden, nicht als Außenstehender zu erläutern und zu kommentieren, sondern meine Rede als einen Baustein in den Ausstellungszusammenhang zu integrieren. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden weniger detailliert als üblich auf die Elemente der Ausstellung eingehen, mich auch nicht so sehr auf den im Ausstellungszusammenhang intensiv behandelten Umgang mit der individuellen Fluchterfahrung konzentrieren, sondern mich darum bemühen, den Zusammenhang von Fluchtursachen mit unserer Alltagswirklichkeit zu untersuchen sowie einen Bezug zu dem Jahresthema herzustellen.

Wenn wir uns in der Welt umschauen und nach den gestaltenden Kräften fragen, und damit nicht die geologischen und anderen langzeitigen Effekte meinen, die zwar das natürliche Angesicht dieses Planeten geformt haben, aber für uns in keiner Weise beobachtbar und nur über etliche Umwege zu spüren sind, stoßen wir, wohin auch immer wir uns wenden, auf eine omnipräsente und doch unsichtbare, vom Menschen geschaffene Macht: die „Wirtschaft“.

Nachrichten über sie beherrschen die Medien, ihre Strukturen beherrschen unseren Alltag, und wirtschaftliche Entscheidungen bestimmen auf nahezu allen Ebenen unsere Zukunft, sei es bei der Planung des Haushaltsetats der Bundesregierung, sei es bei dem privaten Kauf eines Automobils.
Im vulgärpolitischen Diskurs wird „Die Wirtschaft“ oft in einer Art genannt, als sei sie eine Entität, als hätte sie persönliche Interessen. Stellvertretend für sie werden sog. „Wirtschaftskapitäne“ verantwortlich gemacht, „Wirtschaftsbosse“, oder „Entscheider“.

Die wiederum, die sich als große und verdienstvolle „Macher“ selbst feiern und entsprechend bezahlen lassen, sofern die von ihnen verwalteten sozio-ökonomischen Prozesse positiv
wahrgenommen werden, lassen i.d.R., sobald diese Prozesse negativ aufgenommene Konsequenzen zeitigen, alle Verantwortung in den ihnen untergebenen Hierarchien versickern, verweisen auf kaum greifbare Bewegungen der „Weltwirtschaft“, geben regulierenden Eingriffen der Legislative die Schuld oder machen schlicht den sog. „Markt“ und seine angeblich selbstregulierenden Effekte dafür verantwortlich, wälzen also die Schuld auf ihre Befehlsempfänger, den Konsumenten und den Wähler ab.

Diese verschiedenen Zuschreibungen der Verantwortlichkeit entblößen zwei Aspekte unserer sozio-ökonomischen Wirklichkeit: zum einen die Unkontrollierbarkeit der vom Menschen und vom akuten Handeln dissoziierten Macht- und Energieströme der Gesellschaft, also die Eigendynamik des Kapitals, zum anderen das Prinzip des nutznießenden systemischen Opportunismus.

Genau diese Eigenschaften beschreibt der englische Soziologe Anthony Giddens in seiner Strukturationstheorie. Einer ihrer Kernsätze lautet: „Gemäß der Theorie der Strukturation haben soziale Systeme keine Absichten, Zwecke oder Bedürfnisse welcher Art auch immer, nur Menschen haben diese.“

Nach Giddens denken und agieren die Menschen aber fast ausschließlich in ihrer lokalen Alltagswelt; in ihr entfalten sich ihre Absichten, Begehrlichkeiten und Bedürfnisse, die sie nach Möglichkeit befriedigen. Die Summe ihrer Anstrengungen ergibt dabei größere Bewegungen, die ihrerseits zu Strukturen führen, die mit den ursprünglichen Absichten in keinem Zusammenhang stehen müssen.

Wenn verschiedene Individuen regelmäßig eine Abkürzung über eine Wiese nehmen, entsteht auf ihr nach einiger Zeit ein Trampelpfad. Es kann durchaus sein, daß die Absicht der Individuen lediglich darin bestand, morgens rechtzeitig die U-Bahn zu erreichen, und daß der dadurch entstandene Trampelpfad sogar als häßlich und unerwünscht empfunden wird. In der Summe jedoch ergeben das Begehren, länger im Bett liegen zu bleiben und die anschließende Absicht, doch noch rechtzeitig ins Büro zu kommen, eine von beiden Aspekten unabhängige und von den verantwortlichen Individuen unbeabsichtigte Konse-quenz: eine strukturelle Einschreibung, die das Verhalten anderer Individuen später schließlich formen wird und somit eine Eigendynamik entwickelt hat.

Bereits 70 Jahre vor Giddens formulierte der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad
Die 9. Ausstellung zum Jahresprogramm DREHMOMENT, 2017 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

Präsentation
Vernissage mit Performances
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