Wie schon in der Einladung angekündigt und hier angedeutet ist Peter Lynen nicht einer, der in Kolonne mit der Menge losrast, sondern einer, der allein stehen bleibt und nach Orientierung Ausschau hält, danach sucht, wohin es den eigentlich gehen soll.

Der blinde Fleck. So nennt er seine Ausstellung. Ich erinnere hier noch mal kurz an das, was alle aus dem Biounterricht wissen: der blinde Fleck ist in der Netzhaut die Stelle, wo gerade eigentlich besonders intensiv gesehen werden müsste, weil da der Sehnerv gebündelt am Gehirn andockt, bzw. die Leitung zwischen Gehirn und Augapfel auch alle Nahrungs- und Energieströme einspeist.
Aber merkwürdigerweise können wir an dieser Stelle gerade gar nichts sehen. Peter Lynen erinnert mit seinem Titel an unser Unvermögen, welches eigentlich das gebündelte Potential ist.
Von daher ist auch zu verstehen, was die Strahlkraft seiner Farben rings um die tiefschwarzen Flecken im 2. Bild rechts von der Tür ausmacht. Zwei Potentiale/Attraktoren mit farblich hoch aufgeladenem magischem Feld umgeben, selber unergründlich tief. Da ist etwas, -- aber es sieht nicht und wird nicht gesehen, obwohl es Wesentliches  leitet.
Magisch leuchtend auch die nahezu plastischen Bilder der verdichteten und ...der gedehnten Birne. Auch hier die Frucht - wie die Wurst -  geschnitten, in ihren Hälften weitläufig an Autosilhouetten erinnernd, die in ihrer gedehnten Form den vorbeirasenden Straßen- verkehr und die Schritte der Passanten begleitet, in ihrer - in sich gegenläufigen, gebrochenen, um die Mitte gebündelten Form -  voller polarisierter Energie (leuchtende Wölbung und helle Kontur) auf die Mitte bezogen ist.
Warum genau Peter Lynen sich mit der Birne auseinandergesetzt hat, hat er mir nicht verraten. Die jeweils beiden Hälften könnten jedenfalls gedanklich mit den beiden Sehkanälen assoziiert werden.
In einem Vortrag im Planetarium Hamburg am 10.07. diesen Jahres erinnerte Peter Sloterdijk im Rekurs auf seine Werke der Sphären und Globen an die narzistische Kränkung des Menschen, nämlich den
Verlust des alten ptolemäischen Weltbildes mit seiner Vorstellung eines den Menschen bergenden kreisrunden Himmelsgewölbes. Abgelöst über viele Zwischenstationen durch die Denkform der Ellipse mit ihren beiden Brennpunkten hat das ICH heute nicht mehr den selbstverständlichen Ort im gedachten Kosmos. Peter Lynen hat in seinen Birnenbildern diesen ptolemäischen Globus zeitgemäß dynamisiert und zeigt außerdem oben an der Wand im Rosa des Tagesanfangs die Entwicklung des einen Pols zum anderen hin, das Werden der Ellipse mit zwei Brennpunkten, die durch die Zweiheit der Augen in jedem Menschen schon den Blick als ein Konstrukt enthüllt. 
Ich vermute, dass Peter Lynen sich mit Friedrich Nietzsche (1844-1900) auseinandergesetzt hat, und so seine Sicht vom Werden unterstützt hat. N. ging davon aus, dass es kein absolutes Sein gebe, sondern dass das Sein Werden sei, aber kein endloses Neuwerden, sondern "eine ewige Wiederkehr" dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist.
Von daher ist es verständlich, wenn wir in dieser Ausstellung keinen Wagenlenker als Siegerfigur vorfinden, so wie Nora Sdun ihn uns im Juni hier vorgestellt hat.
Im Keller ist eher etwas als Kunstgepäck vorzufinden, was an den Mann erinnert, der in Bunuells "andalusischem Hund" von 1928 aus dem Schrank zwei Pianos zerrte, aus denen tote Esel qollen. Aus dem siegreicher Wagenlenker war ein Beladener geworden, der die toten Lasttiere auf seinen Kulturflügeln weiterzerren muss.
Nun fast hundert Jahre später geht Peter Lynen mit diesen "Snicker"-tieren aber wunderbar heiter und geduldig um und zeigt uns ihren Schrecken als Tor, hinter dem was Leichteres Helligkeit gibt.
Es wäre noch viel zu sagen.
Schauen Sie sich um und kommen Sie noch mal, wenn es leerer ist hier.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Elke Suhr, 24.08.2006



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