Die Hand im Archiv - Einführungsrede zu
Waltraut Kiessner - manus loquens von Dr. Thomas Piesbergen


Waltraut Kiessner - manus loquens / Eine Ausstellung im EINSTELLUNGSRAUM
zum Jahresthema Speichern.Akkumulieren / November 2016


Zu den wichtigsten physischen Aspekten der Menschwerdung, die sich weitgehend im Pliozän abgespielt hat, gehört neben dem aufrechten Gang, der Entwicklung von Zahnbogen, Zungenbein und Kehlkopf sowie dem zunehmendem Volumen des Gehirns die Herausbil- dung der menschlichen Hand.

Im Vergleich zu der Hand des Menschenaffen ist sie gekennzeichnet durch verkürzte Finger und die Fähigkeit des Daumens zu einer opponierenden Haltung. Dadurch waren die Urmenschen wie die Australopithecinen und der Homo Erectus in der Lage, Gegenstände viel fester zu greifen und vielfältiger zu handhaben als die Menschenaffen imstande sind. Zugleich war es ihnen möglich, die Hand zur Faust zu ballen; so wurde die Hand nicht nur zu einem hocheffektiven Greifwerkzeug, sondern auch zum Schlagwerkzeug und zur Waffe.

Als wichtigstes nicht-physiologisches Kennzeichen der Hominisation gilt das intentionelle Zurichten und der Gebrauch von Werkzeugen. Mit ihnen beginnt das, was wir als die Kulturgeschichte des Menschen bezeichnen.
Vorraussetzung dafür aber ist die vorangegangene Entwicklung der menschlichen Hand. Denn selbst wenn andere Spezies über eine Intelligenz verfügen, die mit der des Homo Sapiens annähernd vergleichbar wäre, wie z.B. bestimmte Papageienarten oder Delfine, sind sie nicht in der Lage, ihre Welterfahrung in materielle Kultur zu übersetzen und sich langfristig ein Lebensumfeld zu schaffen, das klar von der natürlichen Umwelt zu trennen ist.

Zu diesem Akt der Neuerschaffung der Welt ist nur der Mensch fähig; und dazu befähigt ihn die Physiognomie der Hand. Sie stellt die operative Schnittstelle zur Welt dar, unsere Möglichkeit, sie zu begreifen, sie uns anzueignen, auf sie einzuwirken und schließlich zu transformieren.
Die Einsicht der Bedeutung der Hand und ihres Hinausgreifens in die Welt brachte die ältesten dem Menschen bislang bekannten Kunstwerke hervor:
Negativabdrücke von Händen. 40.000 Jahre alte Höhlenmalereien auf der indonesischen Insel Sulawesi zeigen ganze Gruppe von weit gespreizten, schlanken und langgliedrigen Händen, die auf die Felswände gelegt und mit Farbe übersprüht wurden.
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Ganz sicher sind sie in einem kulturellen Kontext zu begreifen, der durch ein sog. fließendes Bewußtsein gekennzeichnet ist, in dem der einzelne Mensch sich noch nicht getrennt von den anderen Individuen seiner Gruppe und der Umwelt versteht, sondern alle Erscheinungen der Welt als Teile eines einzigen magischen Fluidums begreift, das mit der Logik des Analogiedenkens zu verstehen ist.

Wenn eine materielle Hand in die materielle Welt greifen kann, um Veränderungen in ihr hervorzubringen, so kann eine immaterielle Hand Veränderungen der immateriellen Seite der Welt bewirken, die wiederum ihre Entsprechung in der materiellen Welt zeitigen wird. Die Abbildung der Hand ist hier also zu verstehen als Kontaktaufnahme mit den immateriellen Aspekten der Welt sowie eine beabsichtigte Einwirkung auf die Welt mit immateriellen Mittel.

Aus diesem ursprünglichen Analogiedenken hat sich die zentrale Bedeutung der Hand im Rahmen rituell-magischer Handlungen erhalten. Keine magische Handlung, kein Segen, der ohne Handzeichen oder akutes Agieren der Hände auskommt. Heiler legen die Hände auf, Pastoren schlagen mit den Fingern das Kreuz über der Gemeinde, im Gebet werden die Hände anrufend zum Himmel erhoben oder gefaltet.

Noch im gegenwärtigen Informationszeitalter ist diese symbolische Bedeutung der Hand präsent und die digitalen Entsprechungen der prähistorischen Hand-Abdrücke begegnen uns ununterbrochen: Während sich die materiellen Hände über Tastaturen, Touchscreens und Mousepads bewegen, öffnen uns immaterielle Hände
als kleine Icons per Klick immaterielle Fenster und greifen zu auf immaterielle Inhalte.

In den frühesten Bildwerken wie in ihren digitalen Entsprechungen, findet sich einer der wohl zentralsten Elementargedanken des Menschen:


Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Bezirk Wandsbek und VG-Bildkunst, Bonn
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