Eine andere Art Grenz-Erfahrung haben Sie sicher gleich beim Hereinkommen schon an sich selbst erfahren. Vielleicht stehen Sie jetzt auch noch etwas unter Strom, weil Sie sich fragen, darf ich oder darf ich nicht? Ich spreche von dem Spielfeld, das LYDIA HARTMANN für den Einstellungsraum hier am Boden ausgeführt hat. In Hartmanns Formel werden Sie zur Masse, die bewegt wird, denn Sie grübeln, ob Sie auf die Kunst treten sollen oder nicht, ob Sie sich innerhalb oder außerhalb der Feldmarkierungen aufhalten wollen oder nicht. Auch die Geschwindigkeit bestimmen Sie selbst. 

Sie spricht absichtlich etwas ganz Tiefsitzendes in uns an: unseren Spieltrieb. Denn obwohl diese Spielfelder oft nicht den wirklichen entsprechen, weder in Dimension, Proportion noch Aufteilung, verstehen wir instinktiv diese "Sprache" und gehen je nach Veranlagung und Konditionierung dynamisch oder den Regeln folgend damit um. Das Verhalten der Menschen, die mit dem Spielfeld in Berührung kommen, ist für Lydia Hartmann daher genauso wichtig, wie der Eingriff in die Örtlichkeiten selbst. Vielleicht kennen Sie ihre Arbeit zur diesjährigen Altonale in der Neuen Großen Bergstraße. 

Hier in Wandsbek zerschneidet sie mit ihrem Spielfeld optisch die Zone des Ausstellungsraumes und setzt dieses draußen auf dem Gehweg und im benachbarten Hausflurbereich fort. Sie hält sich nicht an die Grenze der Raumvorgabe. Dadurch wird die Wandbegrenzung des Raumes in einer anderen Form zur Schnittstelle als bei Gross. Ihre Schnittstelle ist durchlässig, sie gibt den Impuls nach Innen wie nach Draußen, damit hat sich der Raum imaginär und emotional erweitert. Die Leute von der Straße sind zu jeder Zeit einbezogen. 

Ob für Sie durch die Wandarbeit von LUTZ KRÜGER der Raum erweitert oder verengt wird, hängt sehr von Ihnen ab. Hier werden Sie an Ihrer Wahrnehmungsgrenze gepackt. Ich möchte eigentlich gar nicht sagen, wo die Kunst plaziert ist, sonst ist der halbe Spaß vorbei. Ich sage nur, es gibt zwei davon. Die Wand ist im Bild thematisiert. Das klingt recht klassisch und die Monochromie muß auch nicht erst erfunden werden. Doch stellt sich Krüger neben einer fein differenzierten, einfarbigen Oberflächengestaltung noch die Frage nach dem Platz im Raum. Durch die kleine Irritation dieses scheinbaren Nichts erschließt sich im Grübeln die Differenz zum sichtbaren Rest. So kann ein scheinbares Verstellen einer Zone zur gesteigerten Befra- gung des Nichtsichtbaren führen. Nun, ob dies zum Durchdringen der Wandbegrenzung in einen metaphysischen Raum dahinter genutzt wird, oder zum Einhalten und zur introspekti- ven Raumschau, das ist Ihnen freigestellt. Auch hier ist der Künstler der Impulsgeber, die zurückzulegende Strecke ist nicht vorgegeben. Und ich glaube, wir ahnen alle, dass die Geschwindigkeit nur eine relativ langsame sein kann.

In der Kunst liegt möglicherweise eine Befreiungsmöglichkeit aus der Sklaverei der selbst geschaffenen Getriebenheit in der Zeit. Vielleicht sollten wir die Grenzen unserer Körperlichkeit doch mehr lieben lernen und uns statt dessen mit so viel Weiß um uns herum ins große eben solche Rauschen entführen lassen, in dem der Raum ohne Dimension ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Schnittstelle für weitere Kommunikation ist sicher jetzt genug geöffnet, daher mache ich hier eine Zäsur, im Bewußtsein, dass es noch viel zu sagen gäbe.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!"
 
 

aus: "Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit",Teil 2 : Hinrich Gross, Lydia Hartmann, Lutz Krüger, Einstellungsraum Hamburg
Dr. Iris Simone Engelke
VG-Wort-Nr. 9300912
Hamburg |  November 2001

2 von 2
zurück