verstehen, das sich den Ausnahmesituationen widmet, in denen wir vom Archicortex gelenkt unterwegs sind. Daher ist das Kino auch ein Medium, dessen Beherrschung uns beibringt, Distanz einzunehmen und uns mit der Balance zu beschäftigen, so dass wir mit der Kunst des Bremsens und Beschleunigens vertraut werden, also dem komplexen Zustand zwischen Höchstgeschwindigkeit und Crash.

Film und Fahren hängen stark zusammen, wie schon Filmkünstler vor 80 Jahren gezeigt haben. Und es ist nicht verwunderlich, dass Dziga Vertov, der die filmischen Möglichkeiten zur Entfaltung bringen wollte, sich vehement gegen Sentimentalität und Theatralisches im Film ausgesprochen hatte. Er wollte einen Film, der sich vom Literarischen trennt. In seinem Film "
Tschelowjek s kinoapparatom" (Der Mann mit der Kamera), der den Lauf eines Tages mit der Kamera begleitet, hat er 1929 alle Arten der Kamerafahrt ausprobiert und die Kamera dazu an Lokomotiven und auf Motorrädern montiert sowie sie mit dem Stativ auf Autos gestellt. (Unter http://www.mediamanual.at/mediamanual/
workshop/dziga_vertov/index.php ist der Film anzuschauen. Andere Beispiele sind: "Berlin - Symphonie einer Großstadt" von Walter Ruttmann und "Der Kameramann" von Buster Keaton, 1928)

Das Auto als Kamera

Hier ist das Genre der Road-Movies bereits vorgezeichnet. Das Auto als Ort der Kamera bei den Dreharbeiten ist dabei die Herausforderung für Filmemacher und Künstler. Dabei kann das Auto selbst als eine Kamera gesehen werden, so wie es
Fritz Rahmann und Florian Kleinefenn 1987 als camera obscura prŠpariert haben. Für "Camerafahrten mit Automobil" betrieben sie einen VW Golf als Ausstellungsraum und fuhren ihn "nach Maßgabe des projizierten Bildes(...), welches nur von einer Seite hereinkommt" - man folgte also der Projektion der Umgebung, die in das Wageninnere gelangte  - mit Passagieren während der documenta 8 (Katalog, Bd. 2, S. 298) in der Kasseler Karlsaue. Der Umgang mit dem spiegelverkehrten Bild, das zudem rückwärtig im Wageninneren zu sehen war, erzwang eine extrem langsame Fahrt.

Es hat sehr wohl mit Bremsen zu tun, wenn etwa Kimberly Horton einen Zusammenhang zwischen Film und Standbildern sieht. Außerdem neigen Künstler als Spezialisten des Sehens dazu, Quertreiber zu sein, was sie sowieso zu notorischen Bremsern macht,

die alles hinterfragen und Einwände erheben, wie die kritischen Geister aus anderen Bereichen auch. Hier geht es um das Brechen von Konventionen. Das muss kein gewaltsamer Akt sein, denn der Abbruch (break) einer Bewegung kann wie auf dem Video o.T., das Horton durch eine Autoseitenscheibe gefilmt hat, zunächst einmal aus einer verträumten Haltung heraus entstehen. Ein auf der Seitenscheibe hängender Wassertropfen, den der Fahrtwind in ein Wackeln versetzt, wird durch den Film zu einer Illusion, in der die Vorwärtsbewegung in eine chaotisch-poetische Bewegung auf der Stelle umgesetzt wird, während die Umgebung vorbeirauscht.

Bewegung als Illusion



Ein aufmerksames Auge sieht den Betrug am Auge, wenn im Kino ein Film mit 24 Bilder/sec. auf der Leinwand abläuft. Es flackert, weil vom menschlichen Sehzentrum Filme erst ab 48 B/sec. ohne Unterbrechung verarbeitet werden. Um aber Filmmaterial zu sparen, lässt eine Mechanik des Projektionsapparates jedes Bild doppelt aufblitzen. Nur selten, etwa bei Kamerafahrten, springen und verwischen die Motive in der Vorbeifahrt. Dann hilft nur Bremsen der Kamerafahrten und -schwenks, um diesen Mangel des Kinos zu begrenzen.


In dieser Ausstellung "Flee or Break" zeigen beide Künstlerinnen ganz eigene bildnerische Lösungen an den Schnittstellen zwischen Filmen und Fotografieren. Sabine Höpfner, die von Kimberly Horton als Gast eingeladen wurde, hat in ihrer Serie "Wasserfest" (2003) die Zahl der Frames extrem begrenzt. Ihr reichen 3-5 Aufnahmen, die überblendet als Loop gezeigt werden, um nicht nur die Illusion einer Bewegung herzustellen, sondern sie neu zu definieren. Die von ihr verwendeten Einzelbilder lassen jede Kontur der vorbeifahrenden Autos verschwinden. Ihr Aufscheinen in der Geschwindigkeit wird auf dem Film vollkommen in Helligkeits- und Farbschwankungen umgewandelt. Als Loop projiziert treten sie nicht mehr als Bewegungen an der Filmebene vorbei in Erscheinung, sondern werden im Sehzentrum als An- und Abschwellen einer Bewegung interpretiert. Die Szene, eine Leitplanke vor einem Grünstreifen am Meer, unterstützt dabei die Suggestion, welche die Helligkeits- und Farbschwankungen wie die Lichtschwankungen rhythmisch auf den Strand zulaufender Wellen erscheinen lassen.
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