Günstig bis kostspielig
Modelle der 5. Dimension
zur Ausstellung "Stromlinien" von Almut Grypstra

1. Bewegungsmodelle aus vor-televisionärer Zeit

Letzte Woche hielt ich Almut Grypstra drei Stunden von der Arbeit ab. Sie hatte hier vor Ort mit dem Aufbau ihrer Installation begonnen, und als ich mich umschaute, entdeckte ich im Keller eine Knäuelabwickelmaschine. Während meines Aufenthalts zwischen den Knäulen erinnerte ich mich an die zockelnde Bewegung von diesen Wollespeichern, die ich bei meinen strickenden Großtanten beobachtet hatte. Damals verlangte das Hinschauen viel Geduld, denn es konnte schon mal bis zu einer Minute oder auch länger dauern, bis der locker auf dem Boden liegende Wollfaden so straff gestrickt war, dass das auf dem Boden liegende Knäuel angezogen wurde. Durch das Anrucken des mit seinen Härchen am Knäuel haftenden Fadens bekam es von Zeit zu Zeit einen Bewegungsimpuls, der es wie von Geisterhand gestoßen, ein Stückchen über den Boden trieb, wobei sich ein weiteres Stück Faden abwickelte.

Handelte es sich hier noch um ein Stück vor-televisionäre Geschichte mit langsamen Bildfolgen, hängen bei Grypstra mehr als ein Dutzend Knäule an der Maschine, die nun mit einem Elektromotor ange- trieben die große Schar von Fäden gleichzeitig abwickelt. Auch das geschieht nicht gerade temporeich, und ich muss vielleicht auch klarstellen, dass ich die Installation als ein Modell sah, weil der Antrieb zunächst aus Pappe nachgebildet und durch Knicken und Falten in Form gebracht worden war. Deshalb erschien mir das in seiner Unbeweglichkeit erstarrte Modell wie eine in die dritte Dimension erweiterte Zeichnung; denn Kanten, Klebestreifen und Fäden fungierten als im Raum verteilte Striche.

Diese Sichtweise bestimmte unser Gespräch, in dem das Thema Modelle einen großen Raum einnahm. Wir sprachen über Modelle in Naturwissenschaft und Technik sowie die Vorteile von Modellen in der Kunst, die nicht von Effizienzzwängen geleitet sind, nach denen Ingenieure in der Industrie konstruieren müssen. Eher noch als mit diesen ergeben sich Übereinstimmungen zwischen Künstlern und For-
schern, die etwas darstellen müssen, was sich den Sinnen - sei es im Mikro- oder Makrokosmos - entzieht. Dazu zählen Vorgänge in der subatomaren Welt, die zwar durch mathematische Formeln dargestellt werden können, sich aber - auf sichtbare Raum- und Zeitvorstellungen übertragen - paradox verhalten, weshalb sie sich einer abbildenden Visualisierung entziehen. Die Versuche, es dennoch zu bewerkstel- ligen, geraten deshalb unendlich komplex und manchmal sogar monströs. Das einfachste Atom, das Wasserstoffatom, hat nur ein Elektron. Weil es sich aber auf verschiedenen Bahnen, Niveaus und in verschiedenen Anregungszuständen befinden kann, ist seine Dar- stellung keine einfache Aufgabe

Unter den zahlreichen Versuchen aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es besonders
schöne wie die mit Spektralfarben modellierte von Bernd Thaller:
www.bmbf.de/pub/einsteins_unverhofftes_erbe.pdf  S. 15,  und es gibt eine sachliche †bersicht aller möglichen Orbitale, auf denen sich das Elektron befinden kann:
www.physnet.uni-hamburg.de/ilp/de/physikVI/2008/Kap1A_Atomphysik08.pdf


Würde man die Grafik von Thaller (dritte Reihe, mittleres Modell) mit Holzstücken einfach nachbauen, könnte man auf die Reifen kommen, die Grypstra hier installiert hat. Obwohl es 9- oder 12-ecke mit unterschiedlichen Durchmessern sind, die jeweils parallel als gleichgroße Paare verbunden sind, erscheinen sie dem Auge rund. Im Einstellungsraum sind sie wie zufällig verteilt. Würde sich jemand die Mühe machen, sie auf einer Achse zu sortieren, näherte man sich einer Verkörperung, die Thaller dem Wasserstoffatom gibt. Auch kommen die Reifen, diejenigen mit den größten Durchmessern in der Mitte und mit den kleinsten jeweils davor und dahinter, dem Gerüst einer Spindelform sehr nahe. Wenn ich dabei an den Titel der Ausstellung: „Stromlinie“ denke, ließe sich eine solche Spindel als Objekt konkretisieren, obwohl gerade alles, was an die Glätte einer Stromlinie erinnert von Grypstra vermieden wird. Dadurch hat man eher den Eindruck, dass sich die Künstlerin einem typischen Konstrukt technischer oder naturwissenschaftlicher Schönheit entziehen möchte. Ihr Statement: „Ich baue Maschinen, die sich der wirtschaftlichen Produktivität entziehen. Im Gegensatz zur reibungslosen Funktion industriell gefertigter Maschinen, lege ich bei meinen Konstruktionen Wert auf eine den Erfindungen eigene Holperigkeit.“ unterstreicht das, behauptet aber ihren Erfindergeist um so nachhaltiger, so dass man fragen muss, worin dieser liegt und wie er sich auf dem Gebiet der Kunst von dem der Naturwissenschaft unterscheidet.

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