Das Automobil, die Fläche und die Vertikalität - Festrede zum 20jährigen Jubiläum des EINSTELLUNGSRAUM e.V. | Dr. Thomas J. Piesbergen

Seit zwanzig Jahren arbeitet der EINSTELLUNGSRAUM e.V. mit einem strengen Konzept, das auf den ersten Blick etwas skurril anmutet und, wie meine Erfahrung gezeigt hat, sogar als satirisch missverstanden werden kann. Denn der Verein sieht seine Aufgabe in der „Vermittlung von Projekten zwischen Autofahrern und Fußgängern“.

Ist einmal klar geworden, dass es sich dabei keineswegs nur um eine launige Idee handelt, sondern um den Versuch einer ernsthaften Ergründung des Phänomens der Automobilität mit den Mittel der zeitgenössischen Kunst, stellen sich zwangsläufig die Fragen, ob denn etwas so Profanes wie die Automobilität überhaupt imstande ist, einen Ausstellungsort über 20 Jahre lang thematisch zu tragen, und welche Zusammenhänge von übergeordnetem Interesse sich aus der Opposition von Automobil und Fußgänger ableiten lassen?

Wenden wir uns zunächst dem Automobil zu.

Allem voran dient das Auto zur Fortbewegung. Es ist der Logik der Fläche unterworfen. An seiner technischen Entwicklung ist abzulesen, dass es wünschenswert ist, mit dem Automobil immer schneller von einem Ort zu einem nächsten zu gelangen, die Zeit zu raffen, die Zwischenstationen zu überspringen, die Außenwelt mehr und mehr abzuschirmen.
Damit wird impliziert, dass der Mensch erst durch einen schnellen Ortswechsel und eine maximale Reichweite imstande ist, seine Bedürfnisse adäquat zu befriedigen. Der Ort, an dem wir uns befinden, ist allein unzureichend; er muss verlassen werden können, da erst an einem anderen Ort dem unbefriedigenden Zustand abgeholfen werden kann.
An dieser Stelle möchte man gleich zwei Zitate einwerfen, die den Fetisch der Rastlosigkeit in die Schranken verweisen:
Kong Fuzi schrieb, egal wohin man reise, man träfe immer auf sich selbst, und Blaise Pascal sah in dem Verlangen, die eigenen vier Wände zu verlassen, die Wurzel allen Übels schlechthin. Fügt man diese beiden Splitter zusammen, ergibt sich daraus für den in die Ferne strebenden Automobilismus zwangsläufig das Bild einer Selbstflucht, die jedoch fruchtlos bleiben muss.

In einem Gespräch mit Caroline Herder äußerte Goethe hingegen: „Man reist ja nicht um anzukommen, sondern um zu reisen.“
In diesem Zitat kann man den Fußgänger entdecken, dem es nicht darum geht, die Reisezeit mit dem Auto durch Beschleunigung bis zur Auslöschung zu raffen, nur um an ein verheißungsvolles Ziel zu gelangen, von dem man sich vergeblich Erlösung erhofft. Der Fußgänger erscheint hier, ganz im Gegenteil, als ein Mensch, der bereit ist, sich selbst im Spiegel einer sich wandelnden Welt zu betrachten. Die äußere Reise wird zu einem Vehikel der inneren Reise. Der Logik der Horizontalität und Fläche wird die Logik einer Vertikalität entgegengestellt.

Um diese Begriffe und deren grundlegend gegensätzlichen Konzepte zu illustrieren, möchte ich sie auf einen kleinen Exkurs in die Entwicklungsgeschichte des kulturellen Raums mitnehmen.

Funde von den ältesten fassbaren humanoiden Kulturen und Vergleiche mit noch beobachtbaren Wildbeutergruppen ohne ausgebildete soziale Kategorien legen nahe, dass die älteste räumlichen Vorstellung des Menschen von der Welt ihren Ausdruck im unsegmentierten Kreis oder Sphäroid findet. Alle Erscheinungen der Welt sind in einem allumfassenden Zyklus vereinigt, einem magischen, fließenden Bewusstsein. Alle Erscheinungen haben die gleiche Berechtigung auf Existenz. 

Dokumentation
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