Schneisen der Erinnerung
Dr. Thomas Piesbergen

Einführungsrede zu der Ausstellung Eine einzige Katastrophe der Künstlerin
Angela Breidbach im EINSTELLUNGSRAUM e.V. zum Jahresthema SCHNEISEN


Beschäftig sich ein Künstler explizit mit dem Vergangenen, wie Angela Breidbach es in Ihrem Projekt „Eine einzige Katastrophe“ tut, erscheint es für das Verständnis Ihrer Position sinnvoll zu klären, was die „Vergangenheit“ eigentlich ist, was sie für uns bedeutet, wie wir damit umgehen.
Die Vergangenheit ist zunächst das Nicht-Mehr-Existente. Sie ist das, in dem wir den Ursprung unserer Gegenwart verorten; das, aus dem heraus wir versuchen, unsere Gegenwart und damit uns selbst zu begreifen.

Da der Mensch ein kollektives Wesen ist, hat er sich ein kollektives Werkzeug geschaffen, um sich dieser ungeheueren und unüberschaubaren Ursache zu bemächtigen, ein Werkzeug, mit dem er versucht, die Kenntnis dieser Ursache aus dem Flickenteppich der oft trügerischen Erinnerung in eine kollektive Objektivität zu überführen, in der Hoffnung, die Ursache so zu entschlüsseln und dadurch die Gegenwart besser meistern zu können. Dieses Werkzeug ist die Geschichtsschreibung.

Doch wie nähert sich die Geschichtsschreibung dem Vergangenen, dem Inexistenten, dem Unbeobachtbaren?
In ihren Quellen unterscheidet sie sich kaum von ihrer Schwesterdisziplin der Archäologie: Von der Warte des Status Quo richtet sie den Blick auf Artefakte und Befunde, die sie lesbar machen und in Beziehung zueinander setzen muß. Dabei bleibt sie auf das beschränkt, was die Zeit nicht hat spurlos auslöschen können.
In der IX These „Über den Begriff der Geschichte“ schreibt Walther Benjamin, inspiriert von einem kleinen Gedicht Gerhard Scholems und der Zeichnung „Angelus Novus“ von Paul Klee:
 
Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Gerade diesen Blick vermeidet aber die Geschichtsschreibung, denn sie ist darum bemüht, die von Benjamin genannte „Kette der Begebenheiten“ anhand der Trümmer zu rekonstruieren. In dieser heuristischen Bedingtheit, aus den Ruinen und Trümmern lesen zu müssen, ordnet und interpretiert sie Indizien und bildet Modelle von dem, was gewesen sein könnte, deren Anspruch auf Authentizität aber streng genommen immer nur anhand ihrer Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann.

Doch im Gegensatz zu der Archäologie und ihren Quellen, sind die Artefakte und Befunde, mit denen sich die Historiker auseinandersetzen, nicht nur materieller Natur.
Die Artefakte sind vor allem ideeller, die Befunde sozio-politischer Natur. Denn die Wahrnehmung der in der Geschichte wurzelnden Gegenwart gebiert im Vollzug derselben ein stetes Kommentieren und Interpretieren gegenwärtiger Vorgänge und ihrer Hintergründe, ein Prozess, der schleichend in eine Geschichts-schreibung übergeht.

Der Blick zurück verliert sich zunächst in einem unergründlichen Dickicht von primären, sekundären und schließlich tertiären Quellen mit ihren verschiedensten Lesarten und Interpretationen, die immer wieder neue Verbindungen schaffen, Bewertungen vornehmen und Ursachenzuweisungen nahelegen.

Doch schließlich greifen die synergetischen Mechanismen der Selbstorganisation und formen zunächst die wissenschaftliche Lehrmeinung und im Anschluß eine journalistisch
Die 06. Ausstellung im Jahresprogramm SCHNEISEN  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
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in Begleitung von Brigitte Engel-Hiddemann: ERINNERN
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek 
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